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Jugendstil-Kunstschatz in der Bingenheimer Kirche

Sie sind seit über 100 Jahren in Gebrauch, doch ihre künstlerische Herkunft war bisher vergessen. Die Rede ist von der Altardecke und dem Kanzelbehang der Bingenheimer Kirche. Diese Antependien sind besonders, weil sie nicht in den üblichen liturgischen Farben gehalten sind und auch sonst was Muster und Farbgebung betrifft, in keiner unserer fünf Kirchen der Region West zu finden sind. Wie erst jetzt wieder neu bekannt wurde, stammen diese Antependien von dem Jugendstil-Künstler Ernst Riegel. Er war Silberschmied, Bildhauer und später Professor an der Kölner Werkschule.

Ernst Riegel lebte von 1871 bis 1939 und wurde in die Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt berufen. Seine Arbeiten wurden Anfang des 20. Jahrhunderts sehr nachgefragt, denn Jugendstil war en Vogue und dem damaligen kirchlichen Landesherrn Großherzog Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt lag eine ordentliche Ausstattung seiner Kirchen sehr am Herzen. Ernst Riegel fertigte damals Altar- und Taufgerät auch in Messing an, um weniger bemittelten Gemeinde die Anschaffung zu ermöglichen. Zu seinen Werken gehören Tauf- und Abendmahlsgeräte oder Altarkreuze für die Paulskirche und die Bessunger Kirche in Darmstadt, sowie die Lutherkirchen in Wiesbaden und Worms. Typisch für den Jugendstil sind die dekorativ geschwungenen Linien, die Lust an der Verzierung sowie großflächige florale Ornamente. Riegel entwarf auch z.B. die Amtskette für den Darmstädter Oberbürgermeister, aber auch Gebrauchsgegenstände wie Kerzenleuchter oder Trinkgefäße.

1913 wurde Ernst Riegel als Leiter einer Goldschmiedeklasse nach Köln berufen und übernahm dort ab 1926 eine Professur als Hochschullehrer an der Kölner Werkschule. Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernahmen wurde Ernst Riegel fristlos entlassen. Er starb 1939.

Dass es diese künstlerisch wertvollen Antependien im Besitz der Bingenheimer Kirchengemeinde gibt, war in Vergessenheit geraten. Die Wiederentdeckung ihrer Herkunft war ein spannender Prozess.

Angefangen hat alles mit einer Ausstellung von Riegels Arbeiten für die evangelische Lutherkirche in Wiesbaden vergangenes Jahr. Dr. Dörte Folkers von der Deutschen Stiftung Denkmalsschutz (Ortskuratorium Wiesbaden) wollte mehr über Riegels Arbeiten herausfinden. In einem Ausstellungskatalog von 1914 entdeckte sie eine Liste von Riegels Exponaten. Leider ohne Bilder, aber u.a. mit dem Eintrag:

„Altardecke und Kanzelbehang, Leinen, gestickt von Wiegel, Kirche zu Bringenheim b. Friedberg-Hessen“.

Bei der Suche nach dem Ort „Bringenheim“ wurde Dörte Folkers zunächst enttäuscht – einen Ort dieses Namens gibt es nicht. Beim Friedberger Stadtarchiv wurde ihr vorgeschlagen es mal in Bingenheim zu versuchen. Nachgefragt in Bingenheim wusste die KV-Vorsitzende Gertrud Bönsel, dass die roten Festtags-Antependien ziemlich alt sein müssten, wahrscheinlich Vorkriegsware. Nun wurde nach weiteren Hinweisen in der Bingenheimer Pfarrchronik gesucht. Der entsprechende Eintrag gefunden, nach der Kirchenrenovierung von 1909 schreibt Pfarrer Wiegel:

„Die Altardecke u. der Kanzelbehang fertigte nach einem Entwurf von Professor Ernst Riegel von der Künstlerkolonie in Darmstadt die Paramentenanstalt des Diakonissenhauses Elisabethenstift in Darmstadt an, den Altarteppich (Smyrnaarbeit) lieferte die Firma B. Ganz u.Cie in Mainz. Diese Neuanschaffungen wurden am Weihnachtfeste in Gebrauch genommen.“

Hier aber sind nur zwei Teile erwähnt, nämlich nur der Kanzelbehang und die Altardecke. Es gibt aber ein weiteres künstlerisch gestaltetes textiles Teil, das an das Lesepult gehört. Dazu fand sich in der Chronik wesentlich später, im Jahr 1930, ein weiterer Eintrag von Pfarrer Weißgerber. In diesem wird dann zusammenfassend die Herkunft der drei Kunstwerke erklärt:

„Der bisherige Altarteppich war unbrauchbar geworden; er war schon nicht mehr im Gebrauch, als ich den Dienst hier antrat. Es hat sich ein freundlicher Stifter gefunden, der einen schönen neuen Altarteppich der Gemeinde zum Geschenk machte. Die an sich sehr schöne Altarbibel ist so schwer, daß sie am Altar zu den Lektionen kaum gebraucht werden konnte. Der gegebenen Anregung folgend, stiftete ein Gemeindeglied ein Lesepult. Endlich fand sich ein anderes Gemeindeglied bereit die dazu gehörige Lesepultdecke zu stiften. Diese ist der festtäglichen Altar- und Kanzelbekleidung angepaßt, von Professor Riegel entworfen und von der Paramentenanstalt des Elisabethenstifts Darmstadt hergestellt, - die 3 Stifter wollen ungenannt bleiben.“

Laut Dr. Dörte Folkers ist die (Wieder-)Entdeckung der Antependien in Bingenheim wesentlich für die Kenntnis von Riegels Schaffen. Denn Riegels Silberschmiedearbeiten waren bereits bildlich dokumentiert. Seine textilen Arbeiten werden nur erwähnt, aber davon gab es bisher keine Fotos.

Durch die Recherchen sind sie inzwischen in acht Gemeinden erfasst und weitere könnten folgen, denn noch sind nicht alle Hinweise ausgewertet. Riegels Arbeiten für Bingenheim sind dabei besonders interessant: Sie stehen jeweils fast am Anfang (Altardecke und Kanzelbehang, 1909) und am Ende (Lesepultdecke, 1930) seiner heute bekannten Aufträge für Textile Kunst in Kirchen.

PRÄSENTATION (aktualisiert 15.07.2021)


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